Der Fußballknirps aus Syrien, das Basketball-Mädchen aus dem Kosovo oder der Tennisspieler aus der Ukraine: Sport verbindet und integriert. Wirklich? Erzeugen Bälle, Trikots und Schläger ein Wir-Gefühl trotz unterschiedlicher Muttersprache? Die PNP hat bei Yelisei Avtamonov (23) nachgefragt, wie Integration in den Sport und durch den Sport funktioniert.


„Weiter so!“, feuert er im Vorbeigehen zwei Jungs im Grundschulalter an, die sich gerade schweißüberströmt mit kämpferischem Blick ein enges Tennis-Match liefern. Die Jungs drehen ihre Köpfe und winken grinsend. Yelisei setzt sein smartes Lächeln auf. „Zwei meiner Schüler“, erklärt der Ukrainer. Gleich der erste Eindruck ist eindeutig: Das hier ist sein Terrain. Auf und neben den acht Sandplätzen des DJK-TC Passau Grubweg ist der 23-Jährige heimisch.
Auch wenn der Lehramts-Student nach zwei Semestern noch keine Schüler in Klassen unterrichten kann: Auf dem Platz mit der roten Asche hat er bereits die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Schützlinge. Der Student hat nämlich „den besten Nebenjob der Welt“, wie er es nennt: Er gibt Tennisstunden. „Zwischen 15 und 19 Stunden stehe ich wöchentlich als Trainer auf dem Platz“, so Yelisei.
Das klingt nach viel. Tatsächlich ist Yelisei damit mittendrin im Alltag an deutschen Unis. 63 Prozent der Studierenden jobben regelmäßig, 35 Prozent arbeiten laut dem Deutschen Studentenwerks pro Woche acht Stunden oder mehr. Yelisei ist voll dabei. Und im Vergleich zu seinen Landsleuten? Von den 1,3 Millionen Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit in Deutschland sind 743000 im erwerbsfähigen Alter. Laut Bundesregierung sind davon aktuell 135000 Geflüchtete sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Der Sport hilft Yelisei, dass er langfristig diese Statistik verbessert.
Vierjährige Reinschnupperer und ergraute Späteinsteiger, entspannte Einzeltrainings und Stunden mit einer fünfköpfigen Zwergerl-Horde: Ihm wird nie langweilig. Nebenbei trainiert der 23-Jährige noch selbst dreimal wöchentlich, ist Stammspieler in der ersten Grubweger Herrenmannschaft. Jetzt, in seinen Semesterferien, vergeht kein Tag, an dem er nicht einen seiner insgesamt sechs Tennisschläger im Topspin erzeugenden Western-Griff hat. Seine beachtliche Racketsammlung besaitet er selbst. Die dafür geeignete Maschine steht in seiner Wohnung in Thyrnau. Dort lebt er gemeinsam mit seinem Bruder Demian (21), der mit seinen Wasserballern vom TV Passau schon Teil dieser Olympia-Serie war. Die Brüder-WG – eine Etage unter der Mutter, aber nicht unter deren Fuchtel – gibt es so noch nicht allzu lange. Damit sind wir bei dem Tag, der alles im Leben der drei Atamonovs veränderte: Der 17. März 2022.

„Vereinssport als einer der größten Integrationshelfer“!

Die Familie reiste an diesem Tag nach Deutschland ein – drei Wochen nach der russischen Invasion. Eigentlich wollte seine Mutter bei Katze, Hund und Wohnung in der Heimatstadt Kiew bleiben. Bis das Schicksal von oben zuschlug – in Form der Nachbarin der Wohnung oberhalb. Sie besaß ein Auto mit vollem Tank, wollte nach Deutschland, konnte aber selbst nicht fahren und hoffte auf Hilfe von Yeliseis Mutter. Die wollte diese Bitte nicht abschlagen. Über einen Bekannten aus der Ukraine, der bereits in Deutschland war, kamen sie schließlich nach Thyrnau.
Kaum im neuen Land machte Yelisei schon Schlagzeilen: Er wollte Tennis spielen und durfte nicht. Unter anderem der Münchner Merkur berichtete über seinen holprigen Tennis-Start in Deutschland: Die Frist zur Anmeldung für die anstehende Punktspielrunde war acht Tage vor seiner Einreise abgelaufen. Eine Nachmeldung wurde vom Tennisverband abgelehnt. Das wollte Yeliseis damaliger Verein, der TC Thyrnau-Kellberg, nicht einsehen. Die Thyrnauer setzten sich engagiert für ihren neuen Bewohner ein – und bissen auf Bürokratie-Granit. So wurde Yeliseis erster deutscher Tennis-Sommer ein österreichischer. Der Ukrainer spielte für den Bundesliga-Verein UTC-Fischer-Ried jenseits der Grenze.
Yeliseis Beispiel zeigt: Vereine wie die Tennisclubs von Thyrnau-Kellberg oder Grubweg leisten das, was sich der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) auf seine Fahne mit den fünf Ringen geschrieben hat: „Der organisierte Sport ist einer der größten aktiven Integrationshelfer in Deutschland“, so der DOSB.
Bei allen Erfolgen: Laut Erhebungen sind Migranten in den 86000 Sportvereinen des DOSB mit seinen 28 Millionen Mitgliedern deutlich unterrepräsentiert. Eine Kölner Studie ermittelte, dass in den Sportvereinen 2,8 Millionen Migranten organisiert sind. Dies entspricht einem Anteil von zehn Prozent der Vereinsmitglieder. Der Anteil der Migranten an der Gesamtbevölkerung ist über doppelt so groß.
Yelisei hat seine sportliche Heimat mittlerweile beim DJK-TC Passau-Grubweg gefunden. Wer ihm auf der Anlage unweit der Donau zusieht, wie er mit seiner beidhändigen Rückhand in unerhörter Hartnäckigkeit auf die Filzkugel eindrischt, die Bälle mit der Vorhand in raffinierten Winkeln präzise nah der Linien platziert und kurze Stoppbälle mühelos erläuft, merkt: Yelisei ist auf Zack.
So legt der Student auch beim Deutschlernen die Schnelligkeit eines Passierschlags seines Idols Rafael Nadal an den Tag. Obwohl, eigentlich ähnelt sein immer rascher steigendes Lerntempo mehr einem mit Vorwärtsdrall geschlagenen Kick-Aufschlag, dessen Geschwindigkeit überraschend zunimmt. Der Intensiv-Sprachkurs der Uni speziell für Ukrainer half ihm dabei: „Davor bin ich noch nie mit Deutsch in Berührung gekommen“, so Yelisei. Er brauchte drei Monate für jedes Sprachniveau: So arbeitete er sich vom absoluten Anfänger (A1) zum Niveau C1 hoch, spricht mittlerweile fast akzentfrei. „Ich kann alles verstehen, nur beim Sprechen tue ich mich manchmal noch etwas schwer.“

Bald 500 getötete Sportler und Trainer in der Ukraine

Nach einem Jahr in seinem Studium zum Mittelschullehrer mit den Studienfächern Englisch, Sport, Mathematik und Geographie ringt Yelisei dennoch mit sich: Wird er als Nicht-Muttersprachler das Deutsch-Niveau erreichen, das für die beiden Staatsexamen als Lehrer notwendig ist? Er überlegt, wieder in eine wirtschaftliche Richtung zu gehen. Wieder deshalb, weil Yelisei in der Ukraine drei Jahre lang Sportmanagement studierte. Das vierte Jahr, sein Abschlussjahr, fehlt.
Yelisei setzt also zu einem neuen Aufschlag an. Konzentriert tippt der Rechtshänder den Ball auf den Boden, wirft ihn hoch, geht in die Bogenspannung, springt und trifft hoch über dem Kopf den Ball, hämmert ihn übers Netz. Fast zwanzig Jahre ist es her, seitdem Yelisei das Tennis-Terrain betreten und nicht mehr verlassen hat: Damals war er kaum größer als sein Schläger. Erinnerungen aus einem Land, das es so nicht mehr gibt. Mittlerweile ist die Zahl der Kriegsopfer sechsstellig. Für Schlagzeilen sorgte der Tod von Oleksandr Peleschenko, zweimaliger Europameister im Gewichtheben und Olympiateilnehmer 2016, im Alter von 30 Jahren. Mittlerweile ist die Rede von 456 getöteten, ukrainischen Sportlern und Trainern.

„Eigentlich will ich gar nicht mehr zurück“

Diesen Toten widmete Jaroslawa Mahutschich in Paris ihre Goldmedaille im Hochsprung, die ukrainische Flagge in blau-gelb umgehängt. Als Olympiasiegerin ist sie die Nachfolgerin der Russin Alexandrowna Lassizkene, die in Paris nicht am Start ist. Nur 15 russische Athleten treten in Paris an – unter neutraler Flagge. Bedingung ist, dass sie nicht aktiv den Krieg in der Ukraine unterstützt haben.
Yelisei findet den Teilausschluss russischer Sportler bei Olympia richtig. Seinen Standpunkt äußert er knapp und bitter: „Die Russen können gerne wieder mitmachen – wenn sie den Krieg beenden.“ In der Ukraine stehen zerbombte Häuser, hier in seinem Zimmer in Thyrnau die glänzenden Pokale und Medaillen aus den Zeiten als Top-Spieler in der Ukraine. Yelisei schaut nach vorne: „Eigentlich will ich gar nicht mehr zurück.“

PNP 7. August 2024 (Autorin: Anna Kelbel)